Stolpersteine in Kandel
Unser Text zum Reinigungstag am 09.11.
09.11.2025 | vor 1 Stunde, 30 Minuten
Liebe Anwesende, liebe Schülerinnen und Schüler,
wir stehen heute hier, um zu erinnern – an Menschen, die einst Teil dieses Ortes waren.
Indem wir die Steine reinigen, holen wir nicht nur Namen in unsere Gegenwart zurück. Hinter jedem dieser Messingsteine stehen Menschen, Leben, Familien, Hoffnungen, eine Zukunft, ausgelöscht durch den nationalsozialistischen Terror, genau hier in unserem Ort. Wir sagen heute: Ihr seid nicht vergessen. Was euch angetan wurde, ist nicht vergessen und wird nie vergessen.
Darum müssen wir auch verstehen, was die Schoah einzigartig macht.
In diesem Verbrechen liegt etwas qualitativ Beispielloses:
Viele Genozide der Geschichte geschahen im Kontext konkreter Konflikte: um Macht, Land, Ressourcen.
Der Shoah aber ist kein solcher Konflikt vorausgegangen. Vom Judentum ging keine reale Gefahr aus.
Jüdische Menschen sollten nicht wegen eines Krieges, nicht aus wirtschaftlichem Nutzen, nicht aus strategischem Kalkül vernichtet werden. Der nationalsozialistische Antisemitismus war reine Projektion: eine Verschwörungserzählung, die aus Angst, Hass und Wahn ein Weltbild machte. Das war nicht ein Genozid unter anderen, es war ein Vernichtungswahn ohne Gegenstück.
Die Anerkennung dieser Einzigartigkeit bedeutet nicht, anderes Leid zu relativieren. Sie bedeutet, die historische Wahrheit präzise zu benennen, um zu verstehen, wie Antisemitismus funktioniert: als Ideologie, die sich nur mit Haltung, mit Bildung und mit Empathie widerlegen lässt. Erinnern ist daher keine Pflichtübung, sondern eine solche Haltung. Gedenken ist mehr als Rückblick. Es ist die Verpflichtung, in der Gegenwart Verantwortung zu übernehmen. Gedenken bedeutet, Diskriminierung und Hass zu widersprechen – in der Schule, im Netz, auf der Straße. Erinnern heißt also nicht, in der Vergangenheit zu verharren. Es heißt, sie zu deuten, für das Heute. Denn heute erleben wir wieder wachsenden Antisemitismus. Wir erleben, dass Kritik an der Politik Israels oft in pauschalen Hass auf Jüdinnen und Juden umschlägt.
Ja, politische Kritik muss möglich sein – das ist nicht nur Teil, sondern die Basis unserer demokratischen Kultur. Aber wenn aus Kritik Feindbilder werden, wenn das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird, dann überschreiten wir eine Grenze. Erinnerung an die Schoah bedeutet deshalb auch, sensibel zu bleiben – sensibel für das Leid anderer und ebenso sensibel dafür, wenn sich alte Muster des Hasses wiederholen.
Die Erinnerung an den Holocaust darf nicht dazu dienen zu vergleichen oder Leid gegeneinander abzuwägen, sondern um zu begreifen, was geschieht, wenn ein solcher Hass wieder Platz findet in Köpfen, in Sprache, in Politik. Das Wichtigste am gemeinsamen Erinnern ist also nicht das, was war, sondern das, was wir daraus machen.
Wenn wir heute die Stolpersteine reinigen, dann polieren wir nicht nur Messing. Wir machen sichtbar, was Erinnerung leisten kann: Sie hält uns wach. Sie schützt uns vor Verharmlosung oder Relativierung. Sie erneuert das Bewusstsein, dass jedes Menschenleben zählt. Und sie erinnert uns daran, dass „Nie wieder“ für alle gelten muss und ein Auftrag ist. Für jetzt. Für morgen. Für uns alle.